Tempo 30 innerorts: was dafür und was dagegen spricht

Immer wieder wird darüber diskutiert, ob es sinnvoll ist, innerorts Tempo 30 anzuordnen anstelle der von der StVO vorgegebenen Regelgeschwindigkeit von 50 km/h (§ 3 Abs. 3 StVO). In reinen Wohngebieten ist das rechtlich kein Problem, auf Hauptstraßen spricht jedoch der § 45 Abs. 9 StVO dagegen: Demnach darf auf Vorfahrtsstraßen Tempo 30 nur dann angeordnet werden, wenn es eine besondere örtliche Gefahrenlage, d.h. eine überdurchschnittliche Unfallbelastung bei Tempo 50 geben würde. Das führt dazu, dass selbst in Kurven, wo man z.B. aufgrund der Enge oder des Sichtfahrgebots nur 30 km/h fahren darf, Tempo 30 nicht angeordnet werden darf, weil der Autofahrer ja sieht, dass die Kurve eng ist. Auch an Straßen mit unter einem Meter breiten Gehwegen darf Tempo 30 nicht automatisch angeordnet werden, obwohl ein Autofahrer dort mit Tempo 50 viel zu schnell an einem Fußgänger vorbeifahren würde.

Die Deutsche Polizeigewerkschaft schreibt: "[...] Eine generelle Vorschrift von Tempo 30 ist jedoch kontraproduktiv und nichts anderes als eine Schlafmützenregelung. [...]" Nun denn, berüchsichtigt man, dass die Durchschnittsgeschwindigkeit von Kfz derzeit bei rund 30 km/h liegt, und das, obwohl die tatsächlich gefahrenen Geschwindigkeiten auf Hauptstraßen deutlich über 50 km/h liegen, und wenn man zusätzlich berücksichtigt, dass geringere Geschwindigkeiten den Verkehr regelmäßiger fließen lassen, sollte man berücksichtigen, wer denn tatsächlich schlafmützig ist und an der Realität vorbeischaut.

Im Jahr 2009 wurde in Frankfurt die so genannte Speer-Studie vorgestellt. Dort wird Tempo 30 für das Stadtgebiet Frankfurts vorgeschlagen – auch aus den oben genannten Gründen.

Auch das Umweltbundesamt hat sich mit Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit innerorts befasst: In der Ausarbeitung "Verbesserung der Umweltqualität in Kommunen durch geschwindigkeitsbeeinflussende Maßnahmen auf Hauptverkehrsstraßen" heißt es: "[...] Deshalb sollte aufgrund von Nutzungsempfindlichkeiten und im Sinne positiver Umweltwirkungen auch auf stark belegten Straßen eine Reduzierung der Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h vorgenommen werden, allerdings aus Gründen der Verstetigung des Verkehrsablaufes die Vorfahrtsberechtigung beibehalten werden.
[...]
Konkrete Hinweise zur Anordnung von Tempo 30 auf Hauptstraßen innerorts bzw. Ortsdurchfahrten in der Praxis liefert eine Expertise im Auftrag des Schweizer Verkehrsclubs. Darin wird u. a. auf Forschungen in vier deutschen Ortschaften hingewiesen, deren komplette Ortsdurchfahrten durch Tempo 30 begrenzt wurden. Es handelte sich um die Ortschaften Bickenbach (4.600 EW), Kleestadt, Wolfahrtsweiher und Phillipshospital (je 3.500 EW) in der Nähe von Darmstadt.
[...]
Für die Stadtgröße >100.000 EW wird daher der Rückgang der tödlich Verunfallten auf 30 - 35 % beziffert. Bei den Gemeinden von 50.000 bis 100.000 EW ist eine Senkung der tödlich Verunfallten von 35 - 40 % zu erwarten. Die Klein- und Mittelstädte von >10.000 bis 30.000 EW und >30.000 bis 50.000 EW dürften eine Reduktion um 40 - 45 % erreichen. Bei den ländlich geprägten Städten von 5.000 bis 10.000 EW sowie den Landgemeinden unter 5.000 EW wird von einem Rückgang um 45 - 50 % ausgegangen."

In der gleichen Studie wird auch auf die bereits oben angesprochene Problematik des § 45 StVO eingegangen:
"Vergrößerte Spielraume für Kommunen in der verkehrsrechtlichen Anordnung nach § 45 StVO
[...]
Zusätzlich zur bestehenden "Pauschalregelung" ist es aber auch denkbar, die Abläufe in der VwV zu § 45 dahingehend zu verändern, dass der Schutz der Bevölkerung als Primat besteht und damit die Handlungsfähigkeit der Kommune in ihren Stadtgrenzen stärker gegeben ist. Die Landesbehörde als Baulastträger müsste dazu angehört werden bzw. Stellung nehmen, ist aber bei einer ablehnenden Stellungnahme ihrerseits verpflichtet zu begründen, warum die Maßnahmen der kommunalen Straßenverkehrsbehörde nicht zum Schutz der Bevölkerung geeignet sind. Sollte keine Einigung zu Stande kommen, würde die kommunale Vorgabe verbindlich werden. Auch in diesem Fall muss das Prinzip gelten, dass die verkehrlichen Belange nicht per se Ãüer dem Schutz der Bevölkerung stehen dürfen, sondern hier auch in den bestehenden Netzen ein Interessensausgleich stattfinden muss."

Die Frankfurter Rundschau verweist auf ein Forschungsergebnis aus London:
"Die Wissenschaftler hatten die Zahl der Verkehrsunfallopfer in London von 1986 bis 2006 analysiert und überprüft, ob und wie sich die Einführung von 20-Meilen-Zonen, nahezu identisch mit unseren 30er Zonen, darauf ausgewirkt hat.
Dabei gingen sie sehr sorgfältig vor und zerlegten das gesamte Londoner Straßennetz in 119.029 Abschnitte, die sie jeweils einzeln analysierten. Sie fanden heraus, dass die Einführung von 20-Meilen-Zonen die Zahl aller Unfallopfer um 42 Prozent reduzierte, die von tödlich Verletzten um 35 Prozent. Besonders profitierten dabei Kinder, bei denen die Zahl schwerer oder gar tödlicher Verletzungen sogar um 50 Prozent sank.
Die Wissenschaftler konnten dabei auch zeigen, dass sich der Verkehr nicht aus den 20-Meilen-Zonen in Straßen mit höherer Höchstgeschwindigkeit verlagerte, was ja auch ein Grund für die Ergebnisse hätte sein können."

Auch die Unfallkasse NRW hat sich mit dem Thema beschäftigt, unter anderem in der Ausarbeitung: "Kinder unterwegs im Straßenverkehr":
"In Tempo 30-Zonen und in verkehrsberuhigten Bereichen ist in den Jahren 2002 bis 2006 in Nordrhein-Westfalen kein einziges Kind unter 15 Jahren zu Tode gekommen (Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik NRW, 2006). Die Mehrheit der tödlichen Kinderunfälle ereignete sich in den letzten Jahren innerhalb von Ortschaften auf Verkehrsstraßen mit Tempo 50 oder 60 km/h (vgl. Jugendamt der Stadt Düsseldorf, 2001)."

Vernünftige Gründe gegen Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit innerorts gibt es scheinbar nicht. Es ist lediglich die StVO, die es nicht erlaubt und die Betonköpfigkeit einiger Lobby-Gruppen. Dafür spricht alles andere: Jeder Verkehrsteilnehmer würde gewinnen.

 

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© September 2012
Peter de Leuw PdL, , letzte Aktualisierung: 13.09.2020

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