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ForschungsDienst Fahrrad


FDF 246 - 24.06.1995

THOMAS B. DEEN / ROBERT E. SKINNER, JR.:

WIE ERREICHT MAN VERÄNDERUNGEN IM VERKEHRSUMFELD?

USA-Forscher suchen nach nachhaltigem Verkehrssystem

Deen-Paradigma: erst viele kleine Schritte, dann radikaler Wandel

Wichtigstes Ergebnis: Die Reformen, die den Verkehr aufgrund der hohen Umweltbelastungen gegenwärtig verändern, bewirken nur wenig. Das Verkehrssystem kann erst dann nachhaltig (sustainable) werden, wenn die öffentliche Meinung völlig umschwenkt und grundsätzliche radikale Veränderungen der Lebensweise akzeptiert.

Zum Inhalt: Die am Verkehrssystem beteiligten Personen (Verkehrsdienstleistungen, Infrastruktur, Politik) und sogar die Forschung tendieren zu überschaubaren Veränderungen (inkrementeller Ansatz). Weil kleine Änderungen politisch besser durchsetzbar und mögliche Erfolge unmittelbar sichtbar sind, sind in einer Gesellschaft kleine Veränderungen von Alltagsgewohnheiten viel wahrscheinlicher als ein grundsätzlicher, radikaler Wandel. Dieses inkrementelle Verständnis des Wandels hat einige Vorteile, denn es berücksichtigt die realen Verkehrsbedürfnisse und minimiert technische Risiken.

Vor allem Umweltgruppen verweisen jedoch seit langem darauf, daß das gegenwärtige Verkehrssystem nicht nachhaltig (sustainable) und eine Politik der überschaubaren Reformen deshalb kurzsichtig, wenn nicht sogar unverantwortlich sei. Kurzfristige Verbesserungen, die nicht zu einem nachhaltigen Verkehr führen, gelten als irrelevant. Auch viele beruflich im Verkehrsbereich Tätige sind inzwischen davon überzeugt, daß ein vom Automobil dominiertes, unabhängiges Verkehrssystem die kritischen Umwelt- und Energieprobleme, z. B. die globale Erwärmung der Erde, Luftqualität und die Abhängigkeit von fremden Öl, verschärfen wird, wenn es keinen technologischen Durchbruch gibt.

Obwohl sich die Amerikaner über die verkehrsbedingten Gefahren inzwischen relativ einig sind, gibt es keinerlei Übereinstimmung über die Verkehrspolitik, mit der ein nachhaltiges Verkehrssystem zu erreichen sei. Obwohl Umwelt- und Energiebedrohungen zum zentralen Thema der verkehrspolitischen Debatte um Umwelt, Lebensstil und Wirtschaftswachstum wurde, deutet bislang nichts darauf hin, daß die amerikanische Nation zu alternativen Lebensmodellen bereit wäre.

Thomas B. Deen, früher Geschäftsführer der amerikanischen Forschungsgesellschaft für Verkehr (Transportation Research Board), erklärt mit einem Paradigma, warum die Ansätze der überschaubaren Reformen und das Konzept eines nachhaltigen Verkehrssystems ganz unterschiedlicher Natur sind.

Deen geht davon aus, daß es keinen technologischen Durchbruch geben wird, der die Rolle des Verkehrs bei den Umwelt- und Energieproblemen entscheidend ändert, und daß die überschaubaren Reformen nicht zu einem nachhaltigen Verkehrssystem führen werden. Punkt A der Grafik zum Deen Paradigma (Abb. 1) bezeichnet den gegenwärtigen Zustand mit dem Umfeld all derer, die Verkehrspolitik und Entscheidungen treffen (Institutionen, Regeln, finanzielle Ressourcen und öffentliche Meinung). In diesem Umfeld gibt es einen ungelösten Konflikt über Werte (z. B. Verkehr, Umwelt, Lebensstil). Aber weder der politische noch der öffentliche Wille ist vorhanden, um politische Maßnahmen zu unterstützen, die entscheidende Opfer oder eine radikale Umkehr vom status quo ermöglichen.

Punkt B stellt einen künftigen Zustand dar, den eine Verkehrspolitik und ein Verkehrssystem mit überschaubaren Reformen als Ergebnis einer Serie von Veränderungen gegenüber dem Zustand im Punkt A erreichen wird. Verglichen mit heute wird das Verkehrssystem im Punkt B abgasärmer und energiewirtschaftlicher sein, aber keineswegs nachhaltig (sustainable). Wenn sich das Umfeld des Verkehrs nicht verändert, wird sich das Verkehrssystem weiterhin inkrementell, also auf der Linie A- B entwickeln.

Erst wenn sich das verkehrspolitische Umfeld am Punkt B deutlich verändert, kann dies eine Richtungsänderung erzwingen und auf den Pfad von B nach C führen. Ein solches neues Umfeld könnte aus einer Krise wie der Ölkrise von 1973 entstehen. Damals kam es kurzfristig zu Energiesparmaßnahmen, die vorher politisch undenkbar waren und nie ernsthaft untersucht wurden. Deen und Skinner halten es für denkbar, daß die öffentliche Meinung in der Folge einer zerstörten Energieversorgung oder bei einer ernsthaften Gesundheitsbedrohung durch verkehrsbedingte Umweltbelastungen so umschwenkt, daß sich revolutionäre Veränderungen für das Verkehrssystem politisch durchsetzbar werden.

Punkt C, der Zustand eines nachhaltigen Verkehrssystems, kann nicht auf einem direkten Pfad von A aus erreicht werden, weil das gegenwärtige Umfeld größere Veränderungen der Verkehrspolitik ausschließt. So bleibt A- B der einzige Weg, den man gegenwärtig einschlagen kann. Erst in Zukunft werden wir in der Lage sein, unseren Kurs auf B- C zu ändern. Wir werden diesen Kurswechsel erreichen müssen, aber solch ein Kurswechsel wird nicht möglich sein, bis ein neues Umfeld für die Verkehrspolitik vorhanden ist.

Auch wenn Aktivitäten gegenwärtig nicht genug verändern können, um Punkt C zu erreichen, sollten Planer und Politiker weiterhin darauf drängen, daß auch Punkt B so nachhaltig wie möglich wird. Dies kann dazu beitragen, Umweltprobleme zu verzögern oder zu reduzieren, bis die Technologie bessere Antworten liefert oder sich die Aussicht auf irreversible Umweltschäden verringert.

Artikel: "A Paradigm for Addressing Chance in the Transportation Environment" von Thomas B. Deen / Robert E. Skinner, jr., in: Transportation Research News 174, 9/10 1994, S. 11-13.

Autor: Thomas B. Deen, Former Executive Director, Transportation Research Board, Robert E. Skinner, Jr., Executive Director, Transportation Research Board, National Research Council, 2101 Constitution Avenue, N.W., Washington, D.C. 20418, USA.

FDF 246 vom 24.6.95


Der Forschungsdienst Fahrrad des ADFC berichtete bis 1999 14-tägig über Verkehrswissenschaft und Fahrradpolitik. Vielen Dank an die Herausgeber Tilman Bracher und Mattias Doffing und an Elmar Steinbach, der die FDFs ins Internet gebracht hat.

Seit Mitte 1999 ist der Forschungsdienst Fahrrad eingestellt. Er wurde durch den Bicycle Research Report ersetzt, der beim ECF (www.ecf.com) abonniert werden kann. werden kann. European Cyclists' Federation ECF - Rue de Londres 15 (b. 3) - B-1050 Brussels - Phone: +32-2-512 98 27 - Fax: +32-2-511 52 24, e-mail: office@ecf.com


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