8. Deutsche Tandemwoche für Blinde und Sehbehinderte - Ein Rückblick

Die bundesweite Tandemwoche für Blinde und Sehbehinderte fand im Jahr 1998 wieder einmal großen Anklang. 23 Teams reisten Anfang September mit ihren Tandems nach Münster, um auf den geplanten sieben Tagestouren das Münsterland zu erradeln. Ausrichter war diesmal der Blinden- und Sehbehindertenverein Westfalen e.V. (BSVW).

Über den Allgemeinen Deutschen Fahrradclub (ADFC) in Münster erfuhr ich 1994 von der 4. Veranstaltung dieser Art, damals in Hannover ausgerichtet. Spontan war ich von der Möglichkeit begeistert, als Sehende zusammen mit Blinden meine Freude am Radeln zu teilen. Als Gastpilotin meldete ich mich an und wurde am ersten Abend mit Wilhelm Lickteig aus Donsieders/Pfalz bekanntgemacht. Tagsdarauf saß ich zum allerersten Mal auf einem Tandem, anfangs noch ein wenig unsicher. Doch das Treten zu Zweit war rasch erlernt und so verabreden wir uns bis heute zu den jährlichen Tandemtreffen.

Wilhelm mit Pilotin Andrea auf seinem Dawes-Tandem

In den darauffolgenden Jahren wuchs meine Idee, den Tandembegeisterten einmal in das als "Radlerparadies" bekannte Münsterland einzuladen. Auf der Tandemwoche 1997 in Dillingen/Saarland wurde dann unter dem Teilnehmerfeld der Wunsch laut, mich als Organisatorin für das kommende Jahr zu wählen, so daß ich Ende September mit der "Goldenen Klingel" im Gepäck nach Münster zurückkehrte.
Es folgte für mich ein Jahr voller Planungen und Organisationshektik: eine Unterkunft mußte schnell gesucht werden, die allen Teilnehmern genügend Zimmer und den Tandems Schutz vor Regen bietet. Schließlich feierte Münster 350 Jahre Westfälischer Frieden und da war eine frühzeitige Reservierung von Nöten. Touren wurden auf dem Papier geplant und mehrfach abgeradelt. Sind die einzelnen Strecken tandemtauglich? Gibt es schöne Pausenplätze am Wegesrand? Bieten sich interessante Besichtigungen an? Lassen sich die organisatorischen Kosten reduzieren? Wie bei so vielen Großveranstaltungen steht auch ein Tandemtreffen Sponsoren aufgeschlossen gegenüber...
Besonders gefreut hat mich nach einem Presseaufruf die spontane Bereitstellung zweier Privattandems, da so auch Blinde oder Sehbehinderte ohne eigenen Drahtesel mitradeln können.
Schnell vergingen die Monate und plötzlich zeigte mir der Kalender: Es ist Samstag der 5. September 1998 - Anreisetag zur Tandemwoche 1998!
Ausgehend von unserer herrlichen Unterkunft, dem Jugendgästehaus Aasee, starteten das Feld tagsdarauf zur ersten Etappe: In gemütlichem Tempo rollten wir über ruhige Wirtschafts- und Radwanderwege zunächst nach Rinkerode, unserem südlichsten Punkt. Hier drehten wir einen kleinen Bogen und radelten entlang des Flüßchens Werse wieder nach Norden. Beim anschließenden Grillfest am Nachmittag auf dem Gelände des Blindenwassersportvereins Münster, zu dem uns die OG Münster des BSVW eingeladen hatte, konnte jeder nach Herzenslust klönen, über Tandems fachsimpeln oder auf der Werse rudern.
Start zur ersten Etappe: vor dem Jugendgästehaus "Aasee" in Münster
Blindenfreundliches Münster: Ein Bronzerelief von der Altstadt hilft bei der Orientierung Der Montag begann mit einer interessanten und blindengerechten Stadtführung. Frau OB Tüns, Schirmherrin der Tandemwoche, übernahm freundlicherweise die Finanzierung der beiden Gästeführerinnen, die uns sehr anschaulich die Gebäude und die Geschichte der Altstadt erklärten. Nachmittags umrundeten wir großzügig die Stadt. Besonderen Eindruck haben dabei sicherlich bei allen das Vogelschutzgebiet und Europareservat "Die Rieselfelder" hinterlassen: Entlang der Streckenführung, der sogenannten 100-Schlösser-Route, radelten wir durch Brachgelände und Maisfelder, als plötzlich der Weg endete und wir vor einer aufgewühlten Schotterpiste standen. Nur wenige Tage vorher hatte ich doch diese Strecke noch abgefahren! Solch' eine Situation hatte ich vorher nur alptraumhaft befürchtet. Gerade war ich am Überlegen, daß wir zurück und einen Umweg nehmen müssen, als die Fröhlichkeit der Teilnehmer mich mitriß: Irgendwie geht es immer weiter..... Nach gut 1000 m war der Weg dann aber wahrhaftig zu Ende, Bagger hatten einen rund 2 m hohen Erdwall aufgeschüttet, der uns von einer Straße trennte. So mußten alle Tandems über den Hügel getragen oder geschoben werden, für Blinde sicher kein leichtes Unterfangen! Aber diese "Panne" wie auch alle weiteren Baustellen und Umleitungen, die uns in der Woche überraschten, bedeuteten für mich spontane Streckenänderungen und die ständige Angst vor weiteren "Überraschungen".
Die "Rolinck-Runde" führte uns am Dienstag zur gleichnamigen Privatbrauerei ins 40 km entfernte Steinfurt. Dafür mußten wir besonders früh aufstehen, sollte die Führung doch schon um 10:00 Uhr beginnen. In kürzester Zeit und fast pannenfrei erreichten wir pünktlich unser Ziel. Zwei Mitarbeiterinnen begrüßten uns sehr herzlich. Per Videoclip wurde uns zunächst die Geschichte des traditionsreichen Familienbetriebes erläutert bevor wir dann auf dem Rundgang durch Sudhaus und Abfüllanlage den gesamten Herstellungsprozeß erlebten. Natürlich mußten wir den kostbaren Gerstensaft auch probieren! In der betriebseigenen Bar gab es später das leckere Rolinck-Friedensreiter Bräu frischgezapft mit warmen Laugengebäck, so waren wir für den Rückweg wieder gestärkt. Team Karlheinz und Kai-Uwe auf ihrem Dynamics-Tandem
Am Mittwoch stand die "Tour de Natur" auf dem Programm, die uns in lockerem Tempo über 75 km durch das östliche Münsterland führte. Mittagsziel war eine Gastwirtschaft am Kloster Vinnenberg, wo wir nach einer Weile Warten alle unser Essen à la carte bekamen. Leichter Nieselregen trieb das Tempo auf der zweiten Etappenhälfte ein wenig an. Mit einem Westfälischen Abend im Freilichtmuseum Mühlenhof nahm die Woche ihren Höhepunkt: In Begleitung eines Kiepenkerles inspizierten wir zunächst die einzelnen Gebäude und ließen uns von ihm alles erklären. Später wurde im alten Rauchhaus in gemütlicher Runde gegessen und gesungen während draußen ein heftiges Gewitter tobte.
Keine Panne währte lange: Peter beim Reparieren Die Westdeutsche Blindenhörbücherei war am Donnerstagmorgen unser letztes Besichtigungsziel. Hier werden verschiedene Bücher und Zeitschriften in schalldichten Räumen von speziell ausgebildeten Leuten auf Cassetten gesprochen. Das Prinzip ist wie in jeder Bücherei, meterlange Regale sind bis unter die Decke mit den Tonträgern gefüllt, die bundesweit nach Vorbestellung verschickt werden. Nach der Führung verließen wir die Stadt Richtung Süden. In Senden sollte in einem Gasthaus ein kurzer Mittagsstop sein, der sich aber trotz Voranmeldung unserer Gruppe durch Personalmangel in der Küche auf mehrere Stunden hinauszog. Schade, der Hinweis "Radler willkommen" über der Tür bezieht sich wohl nicht auf Gruppen, die nur eine kurze Pause machen möchten! So hatten wir an diesem Tag nicht viel von dem herrlichen Sonnenschein. Anschließend, wie auch am Freitag, erlebten wir noch einmal das herrliche und radlerfreundlich flache Münsterland, bevor am Samstag die "Bergwertung" in den nahegelegenen Baumbergen trotz strömenden Regens von allen Teams erfolgreich absolviert wurde.
Stetiger Begleiter während der gesamten Woche war der Pannenteufel, den aber unser Serviceteam Kay Browatzki von 1-2-3-Rad in Münster und Peter de Leuw mit seinem großem Einsatz sowie alle Teilnehmer mit ihrer guten Stimmung immer wieder für eine Weile vertreiben konnten.
Mit der traditionellen Weitergabe der "Goldenen Klingel" wurde zum Abschluß der Woche die Organisatorin des nächsten Tandemtreffens ernannt: So wird das Tandemtreffen 1999 in der künftigen Bundeshauptstadt Berlin stattfinden. Auskünfte und Teilnehmerunterlagen gibt es bei Gisela Rathenow unter der Telefonnummer 030-8531244.
Wer als Sehender neugierig auf's Tandemfahren ist sollte sich an seinen Blindenverein vor Ort wenden - vielleicht gibt es ja ganz in der Nähe einzelne Tandemfahrer oder gleich eine ganze Tandemgruppe, die sich zu gemeinsamen Ausfahrten trifft.
Allen Helfern, Sponsoren und Teilnehmern, ohne die diese fröhliche und erlebnisreiche Woche nicht zustande gekommen wäre, noch einmal ein herzliches Dankeschön!

© A. Pühse, Dez. 1998

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